Freundliche Finsternuß
Der erste Sonntag im neuen Jahr, morgens um 7:30 Uhr: Das Tram fährt vor meiner Nase ab und ich seufze innerlich. Ich suche die Nummer von Pfarrerin Cornelia Camichel aus der Mail heraus. Zum Glück rufe ich an, das Treffen findet 45 Minuten später als geplant statt. Ich setze mich auf die kalte Haltestellenbank, denn es lohnt sich nicht, nochmals nach Hause zu gehen.
Als ich schliesslich im Lavaterhaus bin, drehe ich mich einmal im Kreis, um mich zu orientieren. Von links dringen Stimmen durch die Türe, und ich lese auf dem Schild «Arvenstube». Ich klopfe einmal, doch niemand öffnet mir. Ich höre das Gespräch dumpf hinter der Türe. Vielleicht besprechen sie gerade etwas Wichtiges, wobei ich nicht zuhören darf. Ich klopfe ein zweites Mal. Soll ich nochmals klopfen oder einfach hineingehen? Beim dritten Mal öffnet mir Cornelia Camichel freundlich die Türe, und ich werde herzlich hereingebeten.
Die Holzbänke an der Wand und das heimelige Licht lassen den Raum gemütlich erscheinen. Ich setze mich, und mir werden Zopf und Kaffee angeboten. Ich lausche den Gesprächen der Gruppe in denen es meist um die Schliessung des St. Peters geht, die Kirche wird ja renoviert. Der Ort scheint ihnen wichtig zu sein. In der Zeit überlege ich mir, ob ich die anderen duzen oder siezen soll, kann mich nicht entscheiden und vermeide es schliesslich, sie direkt anzusprechen.
Als wir dann aufbrechen und nach draussen treten, ist der Himmel wolkenbedeckt. Die Stadt ist so schön leer und friedlich, jedoch auch nass und kalt. Als wir in den Bus steigen, setzt sich ein älterer Herr aus der Arvenstube neben mich. Er findet es schön, dass es das JULL gibt, wo junge Leute noch schreiben. Er erzählt mir von seiner Zeit als Lehrer, als er mal als Aufsatzthema drei Wörter gab. Ich erinnere mich nur noch ans Buttermesser und den Polizisten. Drei Schüler seiner Klasse schrieben eine Geschichte mit einem Superhelden, der Rest der Klasse über einen Vorfall in einem Wald. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die einen Superhelden in ihrer Geschichte hatten, zu Hause einen Fernseher hatten – der Rest nicht.
Wir kommen in Höngg an und laufen am Friedhofweg entlang zur Kirche. Dort werden wir herzlich vom Pfarrer Matthias Reuter der Reformierten Kirche Höngg empfangen. Während des Gottesdiensts stehe ich jedes Mal auf, wenn alle anderen es tun, jedoch singe ich nie mit. Am Ende überreicht Cornelia Camichel der Reformierten Kirche Höngg eine Bibel auf Altzürichdeutsch.
Gemeinsam gehen wir ins Café Sonnegg. Eine Frau aus Dietikon platzt in unsere St.Peter-Gruppe und schlägt mit uns die Bibel auf. …Finsternis lag über der Urflut… Nein, da steht Finsternuß!
Als ich mich von Cornelia Camichel verabschiede, entkomme ich ein letztes Mal knapp dem Duz-/Siez-Zwiespalt, den ich seit dem Morgen habe, und gehe samt der Finsternuß nach Hause.
Felicia Gentile (geb. 2009, JULL-Stadtbeobachterin seit 2024)